4.4.5 An der Hand, nicht durch die Hand eines Menschen sterben?
Schon lange vor der in 2.7 erwähnten Rede von Bundespräsident Gauck vom 2.11.2015 wurde die obige Parole unter prominenten Christen wie ein Staffelstab „von Hand zu Hand“ weitergereicht, um Stimmung gegen Sterbehelfer und für ein Suizidhilfeverbot zu machen. Man tat unredlicherweise so, als stünde im Bundestag eine Abschaffung oder Änderung des § 216 StGB (Tötung auf Verlangen) zur Diskussion.
Am 29.11.2012 sagte der römisch-katholische Abgeordnete und Kirchenvorstand Ansgar Heveling (CDU) im Bundestag (das Gleiche gab er zur Sitzung am 2.7.2015 zu Protokoll):
„Weniger als zwei Monate vor seinem eigenen Tod schrieb Franz Kardinal König, der beliebte Alterzbischof von Wien sowie seinerzeit wesentlicher Denker und Lenker des Zweiten Vatikanischen Konzils, im Januar 2004 in einem Brief an den österreichischen Verfassungskonvent zu Fragen der Sterbehilfe: „Menschen sollen an der Hand eines anderen Menschen sterben und nicht durch die Hand eines anderen Menschen.“ Damit hat Kardinal König jenseits aller juristischen Kategorien sehr griffig und unmissverständlich auf den Punkt gebracht, wo die ethische Grenzlinie im Umgang mit dem Sterben für die Gesellschaft liegt.“
In dem Brief von Kardinal König ging es 2008 in Österreich tatsächlich um Tötung auf Verlangen:
„Aus diesem Grunde wende ich mich heute an Sie und appelliere an Sie, in der Bundesverfassung auch ein Verbot der Tötung auf Verlangen zu verankern. Ich halte einen klaren und verbindlichen Rahmen für unverzichtbar, der sicherstellt, dass es auch künftig in unserem Land keinen Raum für aktive Sterbehilfe, für die Tötung auf Verlangen, für Euthanasie geben soll.“
http://www.kardinalkoenig.at/wirken/mensch/lebensende/0/articles/2008/09/30/a3521
Die Grenze zur durch § 216 StGB verbotenen Tötung auf Verlangen zu überschreiten, stand aber weder Ende 2012 noch 2014/2015 im Bundestag zur Diskussion. So „unmissverständlich“ der Appell des Kardinals war, so irreführend und geradezu ein „Kardinalfehler“ war es, wenn in den letzten Jahren im Bundestag und in der öffentlichen Diskussion in Deutschland immer wieder gefordert wurde, niemand dürfe durch die Hand eines Arztes sterben. Denn mit dem König-Zitat wurde absichtlich oder gedankenlos suggeriert, es gelte zu verhindern, dass Sterbehilfe Deutschland, Dignitas, Herr Arnold und andere „Einzelpersonen“ Sterbewillige töten. Diese irreführende Dramatisierung wurde sogar von der „Qualitätspresse“ aufgenommen. So überschrieb die – inzwischen recht kirchen- und papstfreundliche – ZEIT ein Interview mit Thomas Sitte und einer Kinderhospiz-Schwester: „Den Sterbenden helfen, statt sie zu töten“.
http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2014-01/sterbehilfe-hospiz-schmerztherapie 30.1.2014
Ähnlich griffig, aber unsachlich äußerte sich Herr Sitte vor CDU-Politikern:
„Ich sag: Lieber das Leiden beseitigen als die Leidenden.“
Veranstaltung der Hessischen Landesvertretung in Berlin
https://www.youtube.com/watch?v=t8o7wJUIqIc 13.11.2014, ab 27:30
In einer ZDF-Diskussionsrunde sagte Herr Sitte am 28.5.2014 zum „Fall Herrndorf“:
„Ich hab ihn nicht behandelt, ich hab ihn nicht begleitet, ich hab den Blog nicht gelesen, aber er hat viel gegoogelt, hat viel im Internet gemacht, hat gebloggt, hat sich informiert. Ich glaube, er hat sich schlecht informiert, das ist das Eine. Er hätte es sicherlich selbstbestimmt in irgendeiner Form und auch ohne Dramatik machen können, sauber, preiswert, schmerzfrei und so weiter, ohne andere zu belasten. Ich glaube, das ist seine Verantwortung.“
https://www.youtube.com/watch?v=VP7MwJZVCSA 30:35
Bei diesem hässlichen „Nachruf“ urteilt Herr Sitte posthum über einen hochsensiblen Menschen, der sein Leben nicht nach den Vorstellungen Sittes beendet hat, und dessen – in „Arbeit und Struktur“ veröffentlichte – Überlegungen zum Suizid Herr Sitte gar nicht kannte. Außerdem ignoriert Sitte, dass von etwa 100.000 Suizidversuchen im Jahr etwa 90.000 scheitern, und diese Menschen, die ja nicht alle dumm waren, entweder nicht gegoogelt haben, oder dass das Googeln ihnen nichts nützte, oder sie vielleicht sogar durch Tipps aus dem Internet geschädigt wurden. Er ignoriert ferner, dass die etwa 10.000 Menschen, die jährlich ihren Suizidversuch nicht überleben, ganz überwiegend auch nicht „saubere, schmerzfreie“, sondern grauenvolle Methoden verwendet haben. Ich habe ein Ehepaar gut gekannt, beide etwa 75 Jahre alt, geistig noch fit, die sich mit dem Internet gut auskannten. Sie ließ sich wegen Altersschwäche 2014, er aus (wie ich glaube nicht therapierbarem) Kummer ein Jahr später nachts von einer S-Bahn überfahren. Ihr Tod war – so hoffe ich – schmerzfrei, aber alles andere als „sauber“. Ich weiß nicht, ob sie die ZDF-Sendung mit Herrn Sitte gesehen haben. Genützt hätte es ihnen nicht.
Besonderer Beliebtheit erfreute sich dieses „Totschlag-Argument“ innerhalb der CDU und CSU:
„Menschen sollen nicht durch die Hand, sondern an der Hand eines anderen sterben.“
Grundsatzpapier der CDU Württemberg-Hohenzollern, 18.10.2014, http://bit.ly/2aVCfbg
Laut der entsprechenden Plenarprotokolle präsentierten etliche weitere Abgeordnete des Bundestags im Rahmen der Bundestagsdebatten zur Sterbehilfe Variationen des Ausspruchs von Kardinal König:
„…dass in dieser Gesellschaft niemand durch die Hand eines anderen, sondern an der Hand eines anderen sterben soll.“
Michael Frieser (CSU, römisch-katholisch, 13.11.2014, pdf S. 39)
„Sterben an der Hand eines anderen Menschen ist das Ziel – nicht das Sterben durch die Hand eines anderen.“
Dr. Maria Flachsbarth (CDU, römisch-katholisch, Präsidentin des Katholischen Deutschen Frauenbundes, Mitglied des ZdK, 13.11.2014, pdf S. 60)
Hubert Hüppe (CDU) ergänzte diesen Unsinn, indem er in der (Des-)Orientierungsdebatte suggerierte, in der Schweiz habe ein Sterbehelfer eine Frau getötet:
„Ich habe in den letzten Wochen verdächtig viele Talkshows gesehen, in denen Sterbehelfer auftraten – oder vorgestern beispielsweise eine Frau, die ihre Mutter in die Schweiz fuhr, wo sie sich töten ließ – …“
„In einer humanen Gesellschaft gibt es einen würdevollen Tod nicht durch die Hand der Ärzte und Angehörigen, sondern an ihrer Hand.“
Hans-Werner Kammer (CDU, evangelisch, 13.11.2014, pdf S. 61
„Nicht durch die Hand eines anderen, sondern an der Hand eines anderen sollen Menschen sterben können.“
Michaela Noll (CDU, römisch-katholisch, 13.11.2014, pdf S. 63)
Auch Kardinal Marx malte den Teufel an die Wand und sprach von Ärzten, die töten:
„Alte, schwache und schwer kranke Menschen verdienten besondere Zuwendung. «Und nicht den Giftbecher. Wir brauchen keine Ärzte, die töten.»“
„Nicht durch die Hand eines anderen sollen die Menschen sterben, sondern an der Hand eines anderen. Das sind die Worte, die Bundespräsident Horst Köhler immer wieder gesagt hat und die Bundespräsident Joachim Gauck in den letzten Tagen wiederholt hat. … Nicht durch die Hand eines anderen sollen die Menschen sterben, sondern an der Hand eines anderen.“
Dr. Patrick Sensburg (CDU, römisch-katholisch, Mitverfasser des SDEs, 6.11.2015, pdf S. 15)
„Menschen müssen ihren Lebensweg bis zu Ende gehen dürfen und würdig sterben können
– nicht durch die Hand eines anderen, sondern an der Hand eines anderen.“
Karl Schiewerling (CDU, katholisch, Bundestag, 6.11.2015, pdf S. 15
„Unser Leitsatz war und ist: Sterbende sollten an der Hand und nicht durch die Hand eines Mitmenschen sterben. … Verzweifelten Menschen sollt man die Verzweiflung nehmen, nicht das Leben.“ Michael Brand (CDU, evangelisch, Mitglied des Hospiz-Fördervereins Fulda, Mitverfasser des BGEs, 2.7.2015, pdf S. 16)
Besonders eifrig waren wieder die Katholiken vom Malteser-Orden:
„Dem gegenüber fordern die Malteser einen deutlichen Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland: „Wir sollten Menschen, die am Leben verzweifeln, die Verzweiflung nehmen, nicht das Leben.““ http://www.malteser-hospizarbeit.de/startseite.html
„Dem menschlichen Leid mit der Tötung des leidenden Menschen zu begegnen, ist nicht vertretbar.“ http://tinyurl.com/zptegyw S. 5 li
„Dem gegenüber fordern die Malteser einen deutlichen Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland: „Wir sollten Menschen, die am Leben verzweifeln, die Verzweiflung nehmen, nicht das Leben.““
http://www.malteser-hospizarbeit.de/debatte/sterben-tod-und-trauer.html 2. Absatz
Zum Text der Verfassungsbeschwerde von Wolfgang Klosterhalfen gegen § 217 StGB und weiterer Kritik am § 217: www.reimbibel.de/217.htm
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