Wolfgang Klosterhalfen (Düsseldorf), Protest gegen den geplanten § 217 StGB, Berlin, 22.9.2015, Foto/Copyright: Evelin Frerk
Seit 1871 sind in Deutschland weder der Suizid noch der Suizidversuch gesetzlich verboten. Wegen einer möglichen Verleitung zum Suizid durch professionelle Suizidhelfer (nach meinem Eindruck eher aus religiösen Motiven) hat jedoch eine Mehrheit von 360 Abgeordneten des Bundestags (vor allem der CDU/CSU) am 6.11.2015 ein Gesetz beschlossenen, das die „geschäftsmäßige“ Hilfe beim Suizid unter Androhung von bis zu drei Jahren Gefängnis verbietet und die Selbstbestimmungsmöglichkeiten mündiger Bürger, die sterben wollen, entsprechend einschränkt:
StGB §217 Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung
(1) Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Als Teilnehmer bleibt straffrei, wer selbst nicht geschäftsmäßig handelt und entweder Angehöriger des in Absatz 1 genannten anderen ist oder diesem nahesteht.
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/053/1805373.pdf S. 5
Es ist in Deutschland noch nie jemand wegen „Beihilfe zur Selbsttötung“ verurteilt worden. Dies ist derzeit auch gar nicht möglich, da Beihilfe nach §27 StGB eine rechtswidrige Haupttat voraussetzt.
(Meine Kritik an der irreführenden Verwendung des juristischen Begriffs „Beihilfe“: www.reimbibel.de/27.htm)
Der neue §217, der verharmlosend als „Weg der Mitte“ vorgestellt wurde, lässt Ausnahmen für Amateursuizidhelfer zu, verbietet aber medizinisch kompetenten Organisationen und Einzelpersonen, Menschen beim Suizid zu helfen. Ärzte, die ihrem Gewissen folgend um Suizidhilfe bittenden Sterbewilligen geeignete Medikamente verschreiben, können sich nun strafbar machen, da ihr Verhalten selbst dann geschäftsmäßig (d.h. auf Wiederholung angelegt) wäre, wenn sie dabei keine finanziellen Vorteile erzielten.
CHRISTLICH
Obwohl nur noch die Hälfte der Deutschen an einen Gott glaubt, kaum noch jemand an Auferstehung und Jüngstes Gericht, s. www.reimbibel.de/statistik.htm , und die „Gottesdienste“ nur noch von durchschnittlich 10.4% der Katholiken und 3.5% der Protestanten besucht werden, ist die politische und wirtschaftliche Macht der Kirchen enorm (s. Carsten Frerk, Kirchenrepublik Deutschland, Nov. 2015). Die Kirchen lehnen sowohl den Suizid als auch die „Beihilfe zum Selbstmord“ als nicht gottgefällig ab, denn das Leben sei ein Geschenk Gottes, über das der Mensch nicht verfügen dürfe. Der unsichtbare, aber sich angeblich in der Bibel durch „vom Heiligen Geist inspirierte“ Autoren offenbarende Gott der Christen hat sich jedoch zu diesem Thema bisher nicht persönlich geäußert. Möglicherweise befürchten konservativ eingestellte Christen jedoch, dass dieser Gott sich ärgert oder zornig wird, wenn ein todkranker Mensch sein Leben und Leiden durch Suizid beendet. Warum dieser Gott solches Leiden überhaupt zulässt oder sogar will, ist wohl selbst den meisten Theologen rätselhaft.
INHUMAN
a) Der angebliche Nutzen des Brand-Griese-Gesetzes
Da es lächerlich und verfassungsrechtlich nicht möglich gewesen wäre, ihr religiös motiviertes Sterbehilfe-Verbotsgesetz religiös zu begründen, haben Matthias Brand (Mitglied der stramm katholischen Verbindung Unitas-Salia http://fuexe.unitas-salia.de ), Kerstin Griese (Pfarrerstochter und Sprecherin des Arbeitskreises Christinnen und Christen in der SPD, seit dem 10.11.2015 Mitglied des Rats der EKD) et al. ersatzweise angegeben, der neue §217 solle Leben schützen. Sie spekulieren, dass Suizidhilfe ein „Dienstleistungsangebot der gesundheitlichen Versorgung“ werden könnte, durch das sich alte, kranke Menschen zu einem Suizid verleiten lassen: „Ohne die Verfügbarkeit solcher Angebote würden sie eine solche Entscheidung nicht erwägen, geschweige denn treffen“.
Es dürfte äußerst selten sein, dass sich Menschen von professionell agierenden Suizidhelfern zum Suizid verleiten lassen. Eine solche Verleitung wäre ohnehin als Tötungsdelikt strafbar (und war dies auch schon vor Inkrafttreten des neuen Strafgesetzes. Ein entsprechendes Ermittlungsverfahren gegen Dr. Roger Kusch wurde – kurz nachdem der neue § 217 wirksam wurde (!) – vom Landgericht Hamburg mangels Plausibiblität der Vorwürfe eingestellt.
http://www.zeit.de/hamburg/stadtleben/2015-12/roger-kusch-sterbehilfe-verfahren-hamburg
Allerdings ist mit dem Schwinden kirchlicher Autorität durchaus zu erwarten, dass Suizide in den kommenden Jahren häufiger werden. Was ein besorgter oder verzweifelter mündiger Mensch in Hinblick auf sein Lebensende erwägt und entscheidet, ist in Übereinstimmung mit Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes allein dessen Sache (soweit nicht Rechte anderer verletzt werden). Eine Bevormundung und Entmündigung durch nachhaltig christlich indoktrinierte MdBs ist im Grundgesetz nicht vorgesehen. Wenn mehr Menschen wüssten, dass es legal ist, sich mit ärztlicher Unterstützung umzubringen, und dies nicht verboten würde, würde dies vermutlich den relativen Anteil brutaler oder erfolgloser Suizidversuche (oft mit üblen Folgeschäden) reduzieren.
b) Der zu erwartende Schaden des Brand-Griese-Gesetzes:
Brand und Griese wollen einer soziologisch bisher nicht in Erscheinung getretenen Gruppe von verleitbaren („Suizid? Das könnte ich auch mal machen!“), aber noch zurechnungsfähigen Menschen die Möglichkeit nehmen, sich mit ärztlicher Hilfe zu suizidieren. Diese Personen sollen vom Staat vor sich selbst geschützt werden. (Suizidhilfe bei nicht voll zurechnungsfähigen, z.B. akut depressiven Bürgern, ist schon jetzt als indirekte Tötung strafrechtlich verboten.) Durch ihr Gesetz bewirken sie aber auch, dass Menschen, die sich nach reiflicher Überlegung und aus nachvollziehbaren Gründen töten wollen, daran gehindert werden, mit ärztlicher Hilfe auf sichere, menschenwürdige und Dritte nicht unnötig schädigende Weise zu sterben. Es wäre dies der unverschämteste Übergriff konservativer Christen auf das Selbstbestimmungsrecht weniger konservativer Christen, Andersgläubiger und Ungläubiger seit 1871. Gleichzeitig würde in die Berufs- und Gewissensfreiheit von Ärzten eingegriffen.
Nach Inkrafttreten dieses Gesetzes wären praktisch alle Suizidwilligen auf brutale und sozialschädliche Suizidmethoden angewiesen wie Erhängen, Erschießen, Sturz in die Tiefe. Andere werden sich überfahren lassen (900 „Schienensuizide“ jährlich) oder Autounfälle verursachen. Um zu vermeiden, in eine hilflose Situation zu kommen, in der alle Ärzte eine Suizidassistenz verweigern müssen, wird es (weiterhin) zu „präventiven Suiziden“ kommen, d.h. Menschen werden sich vorzeitig suizidieren. Viele werden unzureichende Mittel verwenden, oft mit schlimmen Folgeschäden am Gehirn oder anderen Organen. Die meisten (oft schon ganz schwachen) Sterbewilligen werden gezwungen sein, gegen ihren Willen weiter zu leben und zu leiden. Nur ein kleiner Teil von ihnen wird Zugang zu einer palliativmedizinischen Behandlung haben. Unterdessen läuft das Geschäft mit dem Sterben munter weiter: Es wird für zig Millionen Euro übertherapiert, am Sterben gehindert, es wird unzureichend betreut, und Ersparnisse und Vermögen werden für Heim- und Pflegekosten aufgebraucht.
UNDEMOKRATISCH
Infratest/Dimap 2014 für hart aber fair:
Sollte es Ärzten erlaubt sein, Schwerstkranken ein tödliches Medikament zur Selbsteinnahme zur Verfügung zu stellen? Ja 79%, Nein 17%
http://www.presseportal.de/pm/7899/2848032
Politbarometer von ZDF und Tagesspiegel:
Im November 2014 wurden 1242 Wahlberechtigte befragt, ob sie einer Legalisierung des assistierten Suizids zustimmen würden oder nicht. 81% Prozent finden, dass schwerstkranken Menschen, die sterben wollen, ein Mittel zur Verfügung gestellt werden soll, mit dem sie ihren Tod selbst herbeiführen können, 14 % sind dagegen.
Es ist mir nicht bekannt, dass in einer Demokratie schon einmal ein Gesetz verabschiedet wurde, mit dem gegen den Willen einer so großen Mehrheit des Volks verstoßen wurde. Das Brand-Griese-Gesetz leistet daher nebenbei einen Beitrag zur Politiker-Verdrossenheit und zum Niedergang unserer Demokratie. Es schädigt außerdem das ohnehin schon stark beschädigte Ansehen der SPD.
KERSTIN GRIESE
Bei den Bundestagsdebatten zur „Sterbehilfe“ hatte ich den Eindruck, dass etliche Abgeordnete zwar sehr „betroffen“ sind und sich mit ihrer (sonst nicht?) „Gewissensentscheidung“ schwer tun, aber nicht wirklich überblicken, was sie dabei sind, anzurichten. Dazu gehört auch Kerstin Griese, die auf ihrer Internetseite weder auf meine Einwände noch auf die anderer Bürger näher einzugehen bereit war:
http://kerstin-griese.de/bundestag-debattiert-ueber-den-assistierten-suizid
Sie scheint sich der Illusion hinzugeben, dass normal praktizierende Ärzte von „ihrem“ Verbotsgesetz nicht betroffen sind.
Beispiel 1:
„Unser Gesetzentwurf bewirkt, dass die Tätigkeit sogenannter Sterbehilfevereine oder von Einzelpersonen, die geschäftsmäßig, also wiederholt und als Hauptzweck ihrer Tätigkeit, die Selbsttötung von Menschen fördern oder vermitteln, unter Strafe gestellt wird.“
(Kerstin Griese im Bundestag, 2.7.2015)
Im Gesetz fehlt jedoch die Einschränkung „und als Hauptzweck ihrer Tätigkeit“. Dadurch bleibt offen, wie oft z.B. ein Onkologe „Suizidhilfe, die im Einzelfall in einer schwierigen Konfliktsituation gewährt wird“ leisten darf, bevor er eingesperrt und ihm in der Folge die Approbation entzogen wird.
Beispiel 2:
Burkhard Lischka (SPD): „Nur, ich habe eine Befürchtung: dass manche hier auf die Sterbehilfevereine zielen, aber auch die Ärzte treffen.“
Zwischenruf von Kerstin Griese: „Tun wir aber nicht!“ (Bundestag, 2.7.2015)
Beispiel 3:
„Mir ist wichtig, dass der ärztliche Freiraum, den es heute gibt, erhalten bleibt, und dass Ärztinnen und Ärzte in schwierigen ethischen Situation individuell helfen und entscheiden können. … Selbstverständlich können und sollen Sie über Ihr Lebensende entscheiden, da wird es keine Einschränkungen geben. … Ich achte das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen und respektiere selbstverständlich andere Meinungen.“
(Kerstin Griese, zitiert aus der Antwort von Frau Griese auf meine in Versform vorgebrachte Kritik, s. http://kerstin-griese.de/bundestag-debattiert-ueber-den-assistierten-suizid)
VERFASSUNGSRECHTLICHE BEDENKEN
Da Brand und Griese aus rechtslogischen Gründen nicht die „Beihilfe zur Selbsttötung“ verbieten konnten, haben sie auf den Aspekt der Wiederholung abgehoben. Eine nicht strafbedrohte Tat soll durch Wiederholung(sabsicht) strafbar gemacht werden. Dazu benutzen sie das Adjektiv „geschäftsmäßig“, und Frau Merkel hat die Parole ausgegeben, es dürfe kein Geschäft mit Tod und Sterben geben.
Diese naive Auffassung ist im Bundestag mehrheitsfähig, wobei möglicherweise etliche Abgeordnete irrtümlich meinen, nur Sterbehilfevereine oder die Tätigkeit einzelner Ärzte zu verbieten, denen es in erster Linie ums Geld geht. „Geschäftsmäßig“ bedeutet aber nur „auf Wiederholung angelegt“.
Der wissenschaftliche Rat des Bundestags hat kürzlich auf Antrag von MdB Katja Keul (Grüne) zum Entwurf von Brand und Griese Stellung genommen und bemängelt, die Straflosigkeit von Suizidhilfe leistenden Ärzten sei nicht hinreichend klar. Ob das Gesetz dem verfassungsrechtlich gebotenen Bestimmtheitsgesetz genüge, sei zweifelhaft.
http://katja-keul.de/userspace/NS/katja_keul/Dokumente_2015_3/WD_3-188-15-A.pdf , Punkte 3.3 und 4)
Wie Frau Keul, eine ziemlich einsame Stimme der Vernunft in der aktuellen Bundestagsdebatte, raten auch 150 deutsche Strafrechtler, überwiegend Professoren an deutschen Hochschulen, dringend von jedem Versuch ab, den sensiblen Bereich der (ärztlichen) Sterbehilfe durch ein Strafgesetz regeln zu wollen:
Außerdem wird der neue §217 massiv in das Selbstbestimmungsrecht von Bürgern (Würde, Entfaltung der Persönlichkeit, Schutz vor Benachteiligung wegen religiöser Anschauung, Berufsfreiheit, Gewissensfreiheit) eingreifen.
Nachdem eine Mehrheit im Bundestag so töricht und unverschämt war, dem schwach begründeten Brand-Griese-Entwurf zuzustimmen, ist nun mit Beschwerden beim Bundesverfassungsgericht zu rechnen.